Was wäre, wenn dein bester Freund oder deine beste Freundin, vielleicht auch ein/-e Mitschüler/-in, sterben würde?
Sicher wäre man am Boden zerstört, möglicherweise bricht eine Welt zusammen. In der Schule wird einem alles Mögliche beigebracht, nicht aber, wie man auf den Tod eines Bekannten reagieren soll. Wie soll man reagieren? Auf den Tod eines Freundes. Auf den Tod eines Bekannten? Auf den Tod einer Person die man kaum gekannt hat?
Ich weiß es immer noch nicht, obwohl ein Junge gestorben ist. Ein Junge, mit dem ich gemeinsam im Konfirmationsunterricht war. Er wird niemals 14 werden. Man wird nie auf so etwas vorbereitet. Man denkt, so was passiert nicht mir, das gibts nur in Filmen und Romanen. Aber wieso sollte mir das passieren? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet mich trifft?
Es gibt keine Antwort, aber eines ist sicher: Es kann jeden erwischen, jederzeit, egal wo. Vielleicht trifft es das ungeborene Baby, deine Oma, einen alten Herrn, einen Lehrer oder einen Mitschüler. Und jedes Mal trauert jemand, jedes Mal gibt es Angehörige, die um diese Person weinen und sie vermissen.
Ich will euch von diesem einen Jungen erzählen, der Junge, der jetzt begraben auf einem Friedhof liegt. Ich will euch davon erzählen, denn so bleibt ein Teil von ihm am Leben. Ein mattes Bild in euren Köpfen, entstanden durch meine Erinnerungen, die ich euch erzählen möchte, um meinerseits sein Bild in Erinnerung zu rufen. Und vielleicht eine Ahnung, was der Tod einer Person bewirken kann bei einem Beteiligten, der ihn noch nicht einmal wirklich gekannt hat.
Ich erinnere mich noch an den Tag, als er zu uns kam, unser Leiter stellte ihn unserer Konfi-Gruppe vor. Ich wusste wie sich das anfühlte, alleine vor einer Gruppe voller fremder Gesichter zu stehen. Bei den nächsten Treffen der Konfirmanden nahm ich ihn kaum wahr, da er sehr still war. Manchmal unterhielt er sich mit ein paar anderen Jungen, doch ich habe nie verstanden, worüber. Er war sehr schmächtig, kleiner als ich. Sein Körperbau war wie der einer Elfe, er war schmal, schlank und zierlich. Er hatte schoko-braunes, etwas welliges Haar und diese typische Jungen-Undercut-Frisur. Jedes Mal, wenn er da war trug er seinen olivgrünen Parka, dessen Kapuze mit Fell besetzt war und den er nie ablegte (komisch, was wohl aus ihm geworden ist?). Manchmal wenn wir durch die Gegend starrten trafen sich für einen winzigen Moment unsere Blicke. Menschen schieben Dinge gern in die Zukunft: ‚Das mach ich später‘; ‚Irgendwann… ‚. So dachte ich auch: ‚ Vielleicht spreche ich ihn das nächste Mal an… ‚ oder ‚ Vielleicht werden wir später mal Freunde‘.
Die Wahrheit war, dass ich ihn nie angesprochen habe, obwohl ich ihn oft auf dem Heimweg getroffen habe. Wir waren nie Freunde; und ich habe ihn nicht einmal richtig kennen gelernt. Die Wahrheit war, dass ich mich einfach nicht dazu bewegen konnte.
Er war schon circa ein halbes Jahr mit uns im Konfirmationsunterricht und dann waren da die Osterferien 2015. Als wir dann wieder zum Konfirmationsunterricht gingen und unser Leiter begann wusste ich, dass jetzt etwas Ernstes kam.
Er erzählte, dass an Ostern ein Junge gestorben war. Er war im Urlaub, am Pool, ohnmächtig geworden, sei in ein Krankenhaus und von dort nach Deutschland in ein weiteres Krankenhaus gebracht worden. Er hatte Gehirnblutungen gehabt.
Am Ostermontag hatten seine Eltern die Geräte, die ihn, obwohl sein Gehirn tot war, am Leben hielten, abstellen lassen. Unser Leiter erwähnte seinen Namen, doch ich war mir nicht sicher, ob es wirklich DIESER Junge war. Vielleicht ging es ihm nicht gut oder er war einfach nicht gekommen. Es gab unglaublich viele Gründe nicht erscheinen zu können. Natürlich war ich entsetzt: ein Junge meinen Alters tot!- und das einfach so, kein Unfall, keine Krankheit, nichts von dem hatte ihn getötet. Er war einfach umgefallen und tot. Nachdem der Junge nun aber mehrere Male nicht erschienen war, zog ich es doch in Betracht, dass sich meine Vermutungen bestätigten.
Ich redete mit anderen Konfirmanden darüber; mit meiner Freundin.
Trotzdem fühlte es sich nicht real an, das war absurd. Eine Person stirbt nicht einfach, oder? Doch, das ist kein ausgedachtes Phänomen von irgendwelchen Autoren oder Regisseuren, es ist passiert; und es ist real. Es fühlte sich komisch an das Wort ‚tot‘ in den Mund zu nehmen, wenn man davon erzählte, es war komisch weiter ganz normal in die Schule zu gehen, den Alltag zu meistern und gleichzeitig zu wissen, dass dieser Junge einfach tot war.
Wenn ich an ihn dachte oder über ihn sprach wusste ich nie, wie ich reagieren sollte. Sollte ich weinen? Sollte ich ausdruckslos vor mich hinstarren? Ich wusste es nicht. Später wurde er begraben, es gab einen Gottesdienst und einen Marsch der Konfirmanden zu seinem Grab. Ich bin zu keinem von beidem gegangen.
Dieses Jahr hatte ich an Ostern Geburtstag, absurd, oder? Eine Woche später war die Konfirmation. Ich weiß nicht, ob seine Eltern trotzdem dort waren, jedenfalls stand ihm zu Ehren ein Stuhl mit weißem Laken und einer Kerze neben dem Altar.
Text: Marie Klett