Der Bundesverband Autismus e.V. definiert Autismus als „eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung“.
Diese Störungen können sehr unterschiedlich sein und zu sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen führen, so dass man von einer „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) spricht. Zu diesem Spektrum gehört z.B. das Asperger-Syndrom, das keine Entwicklungsverzögerung bedeutet. Was Menschen mit einer ASS gemeinsam haben, sind ihre Besonderheiten im Umgang und in der Kommunikation mit Mitmenschen, ihre Besonderheiten im Verhalten oder auch ihre Besonderheiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Umwelt- und Sinneseindrücken.
Hmm, „die Gemeinsamkeiten sind die Besonderheiten“. Das macht es eben schwer, sich ein Bild von Menschen mit ASS zu machen. Deswegen wollten wir uns fragen, ob bei uns Schüler*innen mit Autismus diagnostiziert worden sind und wie sie mit ihren Besonderheiten den Schulalltag erleben.
Bei einer Umfrage zum Thema haben 229 Schüler*innen geantwortet. 5% geben an, dass bei ihnen eine Form von Autismus diagnostiziert wurde.
Laut der Umfrage sind sie mit vielen Vorurteilen konfrontiert: Sie seien nur stressempfindlich; Alle hätten eine Inselbegabung oder seien gar Genies (wie es in vielen Filmen und Serien dargestellt wird) oder aber dumm; Autismus sei heilbar; Sie seien wegen fehlender Elternliebe krank geworden… Auch dass Autismus eine Modekrankheit sei, die nur weiße, heterosexuelle Jungen betreffe, stimmt nicht. In den letzten Jahren werden mehr Menschen überhaupt diagnostiziert, d.h. es werden mehr Menschen automatisch als autistisch eingestuft. Außerdem lassen sich in letzter Zeit immer mehr Mädchen diagnostizieren. Worunter die Befragten auch leiden, ist, dass „Autist“ als Schimpfwort in der Schülerschaft verwendet wird. Die Umfrage bedauert auch das Klischee, dass Menschen mit Autismus egozentrisch seien, dass sie kein Einfühlungsvermögen und deshalb auch keine Freunde hätten. Das stimmt nicht, aber sie interpretieren Reaktionen und Gefühle anders als „neurotypische“ Menschen. Wie das in Freundschaften und in der Schule ist, hat uns – den Schüler*innen der AG-Vielfalt – ein(e) Schüler(in) in einem Interview erzählt. Über die Person sagen wir nichts weiter, als dass sie ca. 16 Jahre alt ist.
ELIAS: Wie hast du herausgefunden, dass du autistisch bist?
INTERVIEWTE:R: Ich hatte schon immer das Gefühl, andere nicht richtig zu verstehen. In der Grundschule wurde ich oft gemobbt, aber ich konnte nicht nachvollziehen, warum. Lange dachte ich einfach, ich wäre reifer als die anderen. Erst als ich in der achten Klasse starke psychische Probleme hatte und in eine Klinik kam, wurde das durch die Diagnostik festgestellt.
ELIAS: Würdest du dir wünschen, dass dein Umfeld anders mit dir umgeht?
INTERVIEWTE:R: Manchmal, vor allem in Streitgesprächen. Wenn meine Freunde sich bewusster machen würden, dass ich autistisch bin, könnten sie mein Verhalten besser verstehen. Aber ich erwarte das nicht ständig – nur ab und zu wäre es hilfreich.
ELIAS: Wie hat dein Umfeld auf die Diagnose reagiert?
INTERVIEWTE:R: Niemand hatte damit gerechnet, aber für mich war es eine Erleichterung. Endlich wusste ich, warum ich anders bin. Meine Familie hatte anfangs Schwierigkeiten, weil viele ein stereotype Vorstellung von Autismus haben. Mit meinen Freunden und in der Klasse gehe ich offen damit um – das ist entspannt.
ELIAS: Würdest du dir wünschen, dass dein Umfeld anders mit dir umgeht?
INTERVIEWTE:R: Manchmal, vor allem in Streitgesprächen. Mehr Verständnis würde helfen, aber ich erwarte es nicht ständig.
ELIAS: Möchtest du noch etwas zum John Lennon Gymnasium sagen?
INTERVIEWTE:R: Nein, es betrifft eher meine soziale Interaktion, nicht den Schulalltag.
ELIAS: Wie würdest du Autismus jemandem erklären, der keine Ahnung davon hat?
INTERVIEWTE:R: Es ist, als würde jemand in einer anderen Sprache mit dir sprechen. Du verstehst die Worte, aber nicht die Bedeutung. Man hinterfragt ständig: „Habe ich das richtig verstanden? Nehme ich das zu leicht oder zu ernst?“
ELIAS: Was unterscheidet dein Leben von dem anderer?
INTERVIEWTE:R: Ich bin sehr emotionaler – egal ob bei Freude, Wut oder Stress. Das ist ein zweischneidiges Schwert, weil andere oft nicht verstehen, warum ich so stark reagiere.
LOTTI: Beeinflusst das auch deinen Alltag?
INTERVIEWTE:R: Ja, schon. Letztes Jahr war ich sehr gut mit einem Jungen befreundet, aber Jungs sind oft nicht so gut darin, emotional auf andere einzugehen. Ich wollte oft Streit klären, den er gar nicht als Streit empfand. Mein Gehirn kann nicht damit umgehen, wenn Dinge nicht klar ausgesprochen oder abgeschlossen sind. Ich brauche klare Strukturen und direkte Gespräche. Wenn ich das nicht bekomme, macht mich das wahnsinnig.
ELIAS: Was denkst du über die Darstellung von Autismus in den Medien?
INTERVIEWTE:R: Boah, es gibt Serien wie „The Good Doctor“ oder „Sheldon“, in denen Autisten immer als extrem intelligent und pedantisch dargestellt werden. Das nervt. Viele Menschen mit Autismus sind nicht so auffällig oder übertrieben ordentlich. Diese Darstellung ist oft klischeehaft.
LOTTI: Würdest du Autismus als Störung oder Krankheit bezeichnen?
INTERVIEWTE:R: Eher als Störung. Eine Krankheit kann man heilen, Autismus nicht – man lernt nur, damit umzugehen. Es ist eine neuropsychologische Veranlagung, keine Krankheit wie Depressionen, die irgendwann verschwinden kann.
ELIAS: Gibt es noch etwas, was du der Schule oder Lehrkräften mitgeben möchtest?
INTERVIEWTE:R: Eigentlich nicht. Ich finde, dass Lehrer und Lehrerinnen darauf eingehen könnten, wenn Schüler offen darüber sprechen. Aber bei mir ist das kein großes Thema. Ich gehe viel selbst damit um und habe auch Therapieunterstützung. Lehrer können nicht alles wissen, und solange man offen kommuniziert, ist das für mich ausreichend.
LOTTI: Noch eine abschließende Frage: Welche Fragen würdest du gerne neurotypischen Menschen stellen?
INTERVIEWTE:R: Ich habe keine konkrete Frage, aber ich würde gerne wissen, wie es ist, wenn alles einfach ist. Wenn man sich nicht verzettelt, wenn man nicht überreagiert oder Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Das würde mich interessieren.
LOTTI: Gibt es einen Wunsch, den du an neurotypische Menschen hast?
INTERVIEWTE:R: Kein konkreter Wunsch, aber wenn man merkt, dass jemand autistisch ist, sollte man darauf eingehen und ein bisschen nachsichtiger sein. Gleichzeitig wollen wir aber auch normal behandelt werden. Wir sind Menschen wie alle anderen und wollen nicht wie etwas Besonderes oder Anderes behandelt werden.
ELIAS: Vielen Dank für das Interview!
Titelbild: That’s Her Business, unsplash
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