Vor 49 Jahren, am 26. April 1986, explodierte der Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl, knapp 1.150 km Luftlinie von Berlin entfernt. Europa erlebt die Gefahren der Atomindustrie am eigenen Leib und Boden. Jedes Land stellt fest: Die Wolken kann man nicht kontrollieren, die Informationspolitik des Nachbarn auch nicht.
Darüber liefert uns Dirk Streifler, geboren 1971, einen persönlichen Rückblick.
Im April 1986 war ich 15 Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Fredersdorf, einem kleinen Ort am östlichen Rand von Berlin, damals noch in der DDR. Die Katastrophe von Tschernobyl war für mich ein Schlüsselmoment – nicht nur wegen der Angst vor der unsichtbaren Gefahr der Radioaktivität, sondern auch, weil sie mir die Abgründe zwischen Wahrheit und Propaganda im eigenen Land zeigte.
Die Explosion, von der niemand sprach
Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor in Tschernobyl – aber in der DDR wusste zunächst niemand etwas davon. Erst Tage später kam eine kurze, verharmlosende Meldung im DDR-Fernsehen. Die „Aktuelle Kamera“ sprach von einem „Störfall“, der angeblich schon unter Kontrolle sei. Keine Warnung, keine Empfehlungen, nichts zur Strahlenbelastung. Aber wir wussten es längst – nicht etwa durch unsere Medien, sondern durch das Westfernsehen, das wir inoffiziell alle sahen, auch wenn es offiziell verboten war. In Fredersdorf war der Empfang gut, also schauten wir heimlich ARD oder ZDF – immer mit dem Hinweis der Eltern, dass wir nicht davon erzählen sollten.
Westfernsehen statt Neues Deutschland

Während im „Neuen Deutschland“ (der Parteizeitung der SED) kaum etwas stand, zeigten die westlichen Sender Bilder von brennenden Reaktoren, warnende Wissenschaftler, Karten mit Strahlenbelastung und Empfehlungen, wie man sich schützen sollte. In Bayern wurde Milch aus dem Handel genommen, in der Bundesrepublik warnten Schulen, Eltern und Behörden vor dem Aufenthalt im Freien. Und bei uns? Es wurde weiter fröhlich Schulmilch ausgeschenkt, als wäre nichts geschehen. Kein Hinweis auf Risiken. Kein Wort über radioaktive Jod-Isotope.
Die Milch wird politisch
Für uns Jugendliche wurde das Trinken (oder Nicht-Trinken) der Milch zu einem politischen Bekenntnis. Ich erinnere mich, dass ich die Milch ausgetrunken habe, hin und her gerissen, ob ich den Medien meines eigenen Landes glauben sollte oder den Westmedien. Die meisten Mitschüler haben die Milch nicht getrunken. Ein Riss im System Tschernobyl hat mir – und vielen anderen – gezeigt, wie sehr Information in der DDR manipuliert wurde. Bis dahin war ich zwar kritisch, aber auch immer der Meinung, dass es gute Gründe gab, z.B. für eine unterschiedliche Berichterstattung.

Ein Sarkophag entsteht, die Mauer bröckelt
Nach diesem Erlebnis wurde mir klar, dass die Führung der DDR nicht das Wohl der Menschen im Blick hatte, sondern nur die eigene Darstellung. Tschernobyl war für mich nicht der Anfang des Zweifels – aber es war der Moment, in dem ich merkte: Das Vertrauen war gebrochen.
Vom Atomunfall zum Umbruch Rückblickend glaube ich, dass die Katastrophe von Tschernobyl – und noch mehr die Art, wie die DDR damit umging – ein Stück zum späteren Zusammenbruch des Systems beigetragen hat. Die Menschen spürten, dass sie nicht ehrlich informiert wurden. Dass es da eine andere Welt gab, in der man offener über Risiken sprach. Ich habe die Mauer noch mit 18 Jahren fallen sehen – drei Jahre nach Tschernobyl. Ich glaube: ohne das was damals passierte, wäre es vielleicht nicht so schnell zum Mauerfall gekommen.
Was in Tschernobyl passiert ist
Eine Erläuterung von Emma, Zoe und Linn aus der Klasse 7c
Im Jahr 1938 schafften es drei Chemiker aus Deutschland, das erste Mal ein Atom zu spalten. Dabei entdeckte man, dass die Spaltung eines Atoms extrem viel Energie freisetzt. Nach der ersten Atomspaltung war das nächste Ziel, die Energie in Strom umzuwandeln. Bald baute man die Atomkraftwerke. Atomkraftwerke haben Reaktoren, in denen ein Reaktorkern ist. In dem Reaktorkern wird Plutonium oder Uran gespalten. Dabei wird so viel Energie frei, dass es 300 °C heiß wird. Da es im Reaktor Wasser gibt, entsteht Wasserdampf. Dieser wird unter Druck zu einer Turbine geleitet, die sich anfängt zu drehen. Diese ist mit einem Generator verbunden, und es entsteht Strom. Damit es nicht zu heiß wird im Reaktor, gibt es Kühlsysteme. Diese bündeln die Wärme und bringen sie über Kühltürme in die Luft. Um die Leistung zu kontrollieren, muss man die Kernspaltung verlangsamen. Dazu benutzt man Steuerstäbe. Sind alle Steuerstäbe im Reaktor, läuft er auf 0 %. Wenn alle draußen sind, auf 100%. Das Prinzip ist ganz einfach.
Jetzt zu Tschernobyl:
Das Atomkraftwerk in der Ukraine besitzt vier Reaktoren und läuft seit 1977 ohne Fehler. Neun Jahre später, am 25.04.1986, soll Reaktor vier überprüft werden. Das müssen alle Reaktoren regelmäßig. Für den Test muss man die Arbeitskraft von 100 % auf 25 % über den Tag verteilt herunterfahren.
Gerade als man den Reaktor von 50 % auf 25 % herunterfahren möchte, erhalten sie einen Anruf aus der Hauptstadt. Sie sollen den Test auf die Nacht verschieben, da der Strom noch benötigt wird. Der Reaktor läuft jetzt also für lange Zeit auf 50 %. Dadurch entsteht im Reaktor eine Xenonvergiftung. Xenon ist ein Gas, das die Spaltung der Atome extrem verlangsamt. Also fällt die Arbeitskraft des Reaktors von 50 % immer weiter, bis man bei unter 1 % ankommt. Der Reaktor ist bei unter 1 % nicht mehr sicher. Eigentlich sollte man ihn notabschalten und warten, bis sich das Gas von selbst zurückzieht.
Doch das Kraftwerkpersonal steht unter Druck, da sie den Test schon oft verschoben haben. Deshalb wollen sie den Test starten. Um den Test zu starten, muss man wieder auf 25 % kommen. Dafür ziehen sie viele Steuerstäbe gleichzeitig raus. Der Reaktor ist jetzt komplett instabil, und alle Systeme zeigen Warnmeldungen. Der Befehlsleiter ordnet trotzdem an, den Test durchzuführen.
Innerhalb von Sekunden eskaliert es. Die Leistung des Reaktors gerät außer Kontrolle, und es entstehen Temperaturen von 2000 °C. Alle Elemente im Reaktorkern verschmelzen und explodieren zweimal um 01:23 in der Nacht vom 26.04.1986. Bei der zweiten Explosion wird die über 3000 Tonnen schwere Reaktordecke weggesprengt.
Der Reaktor steht also offen, und es brennt. Der Feuersturm trägt die radioaktiven Stoffe in die Atmosphäre. Im Kontrollraum sind alle schockiert. Die Mitarbeiter denken, dass nur die Kühlsysteme explodiert sind und der Reaktor noch intakt ist. Sie rufen die Feuerwehr.
Als die Feuerwehr eintrifft, versuchen sie, den Brand zu löschen. Es ist dunkel, und man sieht nur das Feuer. Außerdem hat sich dichter Rauch um das Gebäude gebildet, und niemand weiß, dass das Dach offen ist. Die Feuerwehrleute bleiben die ganze Nacht und versuchen, das Feuer zu löschen. Dabei werden sie leider verstrahlt.
Erst zum Sonnenaufgang wird klar, was passiert ist. Die Ersthelfer entdecken Steuerstäbe im Freien liegen – das heißt, der Reaktor steht offen. Als man diese Information weiterleitet, hört man Warnsirenen in Prypjat. Das ist die nächstgelegene Stadt zu Tschernobyl.
Die Stadt wird evakuiert. 50.000 Einwohnern wird gesagt, dass sie für drei Tage ihre Häuser verlassen müssen. Es werden 1.200 Busse verwendet. Die Leute dort nehmen nur das Notwendigste mit.
Zudem werden Soldaten, Ingenieure, Wissenschaftler, Minenarbeiter und Freiwillige nach Tschernobyl geschickt. Sie werden nicht darüber informiert, wie gefährlich die Strahlung dort ist, und genau sie sollen diese eindämmen. Deshalb werden sie auch Liquidatoren genannt. Auch das Feuer brennt noch mehrere Tage. Die Liquidatoren helfen auch, es zu löschen. Sie fliegen mit Helikoptern über Tschernobyl und schütten Sand und Blei darauf, um die Strahlung einzudämmen. Auch radioaktive Trümmer, die auf dem Dach liegen, beseitigen sie. Dort auf dem Dach ist die Strahlenbelastung so groß, dass man sich dort nicht länger als 25 Sekunden aufhalten darf.

Man befürchtet auch, dass der Reaktor bis zum Grundwasser durchschmilzt. Also bauen Bergleute ein Tunnelnetz unter das Atomkraftwerk, das anschließend mit Beton gefüllt wird. Das verhindert das Schlimmste.
Heutzutage werden die Liquidatoren als Helden gefeiert. Sie schützten eine Million Menschen vor den gefährlichen Strahlen. Viele Liquidatoren bezahlten dafür mit ihrem Leben – 25.000 von ihnen sterben an den Folgen der Strahlung.

Durch den Unfall werden über 20 Länder verseucht. Nach dem Unfall erzählte die Ukraine niemandem davon. Sie wollten Zeit gewinnen, um es selbst in den Griff zu bekommen. Das schaffen sie auch für zwei Tage, bis in Schweden, 1.000 km entfernt, erhöhte Strahlenwerte gemessen werden. Die schwedische Regierung hat Angst, dass sie einen Unfall in ihrem eigenen Land nicht mitbekommen haben.
Nach ein paar Checks kommt aber heraus, dass mit ihren Atomkraftwerken alles noch stimmt. Sie holen Meteorologen dazu, die sollen Windmuster und Wetterzyklen analysieren. So findet die Regierung heraus, dass der Wind aus der Ukraine kommt.
Die schwedische Regierung macht der Ukraine Druck, und am 28.04.1986 berichtet die Ukraine mit einem kurzen Schreiben, was passiert ist. Darauf gerät ganz Europa in Angst. In allen Ländern werden überhöhte Strahlenwerte gemessen. Überall wird vor dem Fallout gewarnt (das ist der radioaktive Regen nach einer solchen Katastrophe).
Auch Lebensmittel werden angepasst, da man Angst hat, dass die Tiere radioaktives Gras gegessen haben. Es gibt keinen Käse, keine Milch, keine Butter und kein Fleisch. Auch bei Kühen wird gewarnt, sie einige Tage nicht auf die Weide zu lassen. Auch Obst und Gemüse, das unter freiem Himmel geerntet wurde, wird vom Markt genommen. Pilze und wilde Beeren werden für mehrere Jahre als besonders risikobehaftet eingestuft.

Heutzutage sind in Tschernobyl viele Touristen. 2019 kamen rund 128.000 Besucher in die Sperzone, die meisten mit einem Geigerzähler. Es wurde um den Reaktor eine riesige Stahlhülle (Sarkophag) gebaut. Um den Sarkophag herum dürfen sich die Touristen nur kurz aufhalten, aufgrund der hohen Strahlenbelastung.
2016 wurde der Sarkophag das letzte Mal erneuert, und die Einwohner aus Prypjat kamen nie zurück, da die Wohnungen in der Sperzone liegen und es sehr lange dauert, bis sich Atome zersetzen. Plutonium hat zum Beispiel eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren.
Im restlichen Europa haben sich die Strahlenwerte wieder normalisiert. Gebiete, die vom Fallout stärker betroffen waren, haben noch leicht erhöhte Werte. Auswirkungen gibt es aber noch heute. Es gibt Berichte von Elchen und Rentieren mit genveränderten Geweihen (Mutationen). Das wird darauf zurückgeführt, dass sie vor allem Moos essen und in Moos die Strahlung besonders lange bestehen bleibt.
Momentan gibt es noch 100 aktive Atomkraftwerke in Europa. Deutschland hat 2023 die letzten drei Atomkraftwerke stillgelegt. Frankreich hat ca. 75% ihres gesamten Stroms aus Atomkraft, sie haben 18 Atomkraftwerke und insgesamt 56 Reaktoren.
Vorteile der Atomkraft sind, dass sie schnell Energie liefert. Nachteile sind die Unfallgefahr und der radioaktive Müll. Der Müll besteht aus Brennelementen, Steuerstäben und allem aus den Kernreaktoren. Das alles muss über 10 Jahre dicht verschlossen in Castoren unter der Erde gelagert werden. Von manchen Müllarten geht über 100.000 Jahre Strahlungsgefahr aus.
Originalfoto Titelbild: Mae Mu, unsplash