Tschernobyl und ihre Kinder – Frau Hahn erinnert sich

Castor Stop, Foto von glabal2000, 2010, CC BY-NC-ND 2.0

Ein Artikel von Emma, Zoe und Linn aus der Klasse 7c

Wir hatten das Glück, ein Interview mit Frau Barbara Hahn zum Thema Tschernobyl zu führen.
Frau Barbara Hahn wurde 1943 geboren. Das bedeutet, dass sie 1986 bei der Tschernobyl-Explosion 43 Jahre alt war. Damals war sie Konferenzdolmetscherin in der DDR, also sozialistischem Ost-Deutschland. (Früher hätte sie diesen wunderbaren Beruf vielen Leuten empfohlen, doch heutzutage stirbt der Job wegen KI langsam aus.)
Von der Tschernobyl-Explosion erfuhr sie eigentlich nur durch ihren Job. Bürger*innen gründeten nämlich kurz nach der Katastrophe ein Tschernobyl-Komitee oder auch „Optionskomitee“, das sich um die Kinder aus Tschernobyl kümmerte – um Ferienlager, aber auch darum, die Kinder aus der Umgebung von Tschernobyl herauszuholen.
Die Kinder bekamen dann eine Art Unterkunft, in der sie sich vier Wochen lang bei guter Atmosphäre erholen sollten. Es gab nämlich auch viele Kinder, die krank waren. Damals konnte man aber nie genau feststellen, warum sie krank wurden. Es war nicht nachweisbar, ob die Krankheit durch Tschernobyl kam, obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war.
Die Kinder sprachen meistens nur Russisch, und so kam Frau Barbara Hahn mit Tschernobyl in Kontakt – weil sie als Dolmetscherin für die Kinder arbeitete.

Tschernobyl-Kinder-Reise vom Projekt Glöobal2000 im Jahre 2014, CC BY-ND 2.0
Tschernobyl-Kinder-Reise vom Projekt Glöobal2000 im Jahre 2014, CC BY-ND 2.0

Als Frau Barbara Hahn von der Explosion hörte, war es für sie nicht sofort ein großer Schock wegen der Nuklearkatastrophe. Es herrschte einfach eine riesengroße Unwissenheit. Keiner wusste, was diese Explosion mit dem Alltag zu tun hatte. Keiner wusste, was das bedeutete – nicht einmal die Menschen, die in der Nähe lebten.

Das Schlimme an der ganzen Geschichte war, dass niemand darauf vorbereitet war.
Die Explosion von Tschernobyl war ja nicht der erste Unfall in einem Atomkraftwerk. Es gab schon in Amerika und Schweden große Unfälle, aber diese wurden geheim gehalten. Nichts wurde veröffentlicht oder genau analysiert, sodass man nicht wusste, was im Ernstfall zu tun ist.
Wenn so viel radioaktive Strahlung austritt, muss die Bevölkerung eigentlich umgesiedelt werden – aber das war damals nicht bekannt.

Der wahre Schock war für Frau Barbara Hahn aber ein anderer: 1985 wurde Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das war für sie eine riesengroße Hoffnung, dass das Regime offener wird und dass der Sozialismus dank mehr Demokratie umgesetzt wird. Die Schlagworte von Gorbatschow waren damals Glasnost und Perestroika. Glasnost bedeutet im Russischen „Transparenz“, Perestroika „Umbau“ oder „Umstrukturierung“ der Gesellschaft.

Mosow Peace Festival 1989, Urheberrecht: Stas Namin Center/ CC BY-SA 3.0
Mosow Peace Festival 1989, Urheberrecht: Stas Namin Center/ CC BY-SA 3.0


Leider blieb die Informationspolitik genauso schlecht wie zuvor. Nichts wurde öffentlich gemacht, alles nur heimlich in geheimen Gremien besprochen.
Wenn man damals im Ostblock und überhaupt in der DDR etwas erfuhr, dann meistens über das Westfernsehen. Dass es unter Gorbatschow genauso weiter intransparent ging wie vorher, war der eigentliche Schock für Frau Hahn, ihre Freunde und Familie.

Ein zweiter Schock war, dass Tausende Menschen einfach so in das Kraftwerk geschickt wurden. Das waren die sogenannten Liquidatoren. Man kann bis zu 300.000 Menschen als Liquidatoren bezeichnen. Das ist eine absolute Katastrophe. Die Menschen wurden sofort der radioaktiven Strahlung ausgesetzt, und dadurch starben sehr, sehr viele.
Doch nicht nur durch ihren Job bekam Frau Hahn Informationen über Tschernobyl. Weitere Quellen waren das Westfernsehen und das Radio – zum Beispiel die Tagesschau und das DDR-Fernsehen.
In der DDR war man es gewohnt, sich doppelt zu informieren. Deshalb schaute man heimlich Westfernsehen. Die Bundesrepublik und die DDR strahlten ihre Programme nicht zur gleichen Zeit aus, sodass man meistens beides sehen konnte. So versuchte man, sich aus beiden Seiten die Wahrheit zusammenzusetzen.

Tagesschau im West-Fernsehen, 1986
Tagesschau im West-Fernsehen, 1986
Tagesschau im Ost-Fernsehen, 1986
Tagesschau im Ost-Fernsehen, 1986

Im Fernsehen wurde viel gelogen – aus Angst, Panik auszulösen. Aber die Lügen führten zu Unsicherheit. Man musste selbst entscheiden, was man noch essen konnte und was nicht. Besonders als Eltern war man sehr vorsichtig. Es gab kaum konkrete Hinweise, was man lassen sollte.
Es hieß einmal, man solle nicht so viel draußen sein, die Fenster und Türen geschlossen halten und möglichst zu Hause bleiben.
Gleichzeitig dachte man, es sei nicht so schlimm – weil der Schulbetrieb ja weiterlief.
Da es keine verpflichtenden Einschränkungen gab, schränkte man sich selbst ein. Eine dieser freiwilligen Einschränkungen war der Verzicht aufs Pilzesammeln.

Frau Barbara Hahn war schon sehr aktiv, als sie jünger war. Als sie etwa so alt war wie wir (ungefähr 12 Jahre), war sie sehr engagiert und wollte die neue Gesellschaft mit aufbauen. Damals war sie sehr überzeugt.
Doch der Vorfall in Tschernobyl ließ sie den Glauben an die Fähigkeit der Regierung der DDR, eine gerechte sozialistische Welt zu schaffen, verlieren.
Tschernobyl war eine Katastrophe – doch die Sowjetunion hat nicht dazu gestanden, und auch die Menschen aus Pripjat oder andere Betroffene wurden im Stich gelassen.
Die Repressionen des Volksaufstands 1953 und des Prager Frühlings 1968 waren für Frau Hahn schon ein Schock, aber auch die Corona-Pandemie 2021 jagte vielen Menschen Angst ein.
Wir haben Frau Hahn nämlich gefragt, wie sie die Medienlandschaft in der Zeit der Katastrophe von Tschernobyl und in der Zeit der Pandemie wahrnahm. Also wie konnte man sich 1986 in der DDR und 2021 im vereinigten Deutschland informieren. Doch ein Vergleich hält unsere Interviewpartnerin für schwierig.
In der Pandemie hatte man viele Informationsquellen – bei Tschernobyl nur zwei.
Durch die vielen Infos fühlte man sich in der Pandemie vielleicht sicherer, auch wenn man nicht mit allen Maßnahmen einverstanden war.
2021 war es schwer zu verstehen, dass man nichts tun konnte. Damals wurden z. B. Spielplätze abgesperrt – dagegen rebellierte Frau Barbara Hahn.
Sie hatte zwar Fragen, was die neue Impfung evtl. für Folgen haben könnte, ging aber trotzdem impfen.
Solche Überlegungen konnte man sich bei Tschernobyl gar nicht machen.
Das lag auch daran, dass man sich der Gefahr gar nicht bewusst war.
In der Schule hatte man damals auch kaum etwas über Atomenergie gelernt. Deshalb wurde nur gegen Atomwaffen demonstriert, aber die Kernenergie wurde akzeptiert.
Tschernobyl war eine große Katastrophe – und so etwas sollte nie wieder passieren.

Emma, Zoe und Linn, 7c